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Biokompatibilität – ein komplexes Thema in der Medizintechnik

Wie bringst du deine Medizinprodukte biokompatibel und patientensicher auf den Markt? 

Biokompatibilität setzt sich aus dem Zusammenspiel eines technischen Systems (das Medizinprodukt, das Bauteil, das Material) und eines biologischen Systems (der Patient, der Anwender) zusammen. Das technische System darf sich nicht negativ auf das biologische System auswirken. Ziel der Biokompatibilität ist der Schutz des Menschen vor biologischen Risiken, die sich aus der Anwendung eines Medizinprodukts ergeben.

Was besagt die EN ISO 10993-1?

Die EN ISO 10993-1 (Biologische Beurteilung von Medizinprodukten – Teil 1: Beurteilung und Prüfungen im Rahmen eines Risikomanagementsystems) – befasst sich mit der Beurteilung der Materialien des Medizinprodukts bzw. mit dem Medizinprodukt selbst.

Der Anwendungsbereich der Norm umfasst die Beurteilung der biologischen Sicherheit von aktiven, nicht aktiven, implantierbaren und nicht implantierbaren Medizinprodukten. Die Medizinprodukte werden nach Art und Dauer des Körperkontakts eingeteilt. Außerdem werden vorhandene Daten ausgewertet und falls nötig zusätzliche Datensätze ermittelt. Durch Veränderungen des Medizinprodukts im Laufe der Zeit (z.B. durch Wiederaufbereitungen oder Beschädigung des Medizinprodukts oder einzelner Bestandteile) kann der menschliche Körper neu entstandenen Materialien ausgesetzt sein. Auch diese biologische Gefährdung wird beurteilt. Durch eine Risikoanalyse werden die vorhandenen Datenlücken ermittelt.

Anhang A, Tabelle A.1

Die in einer biologischen Risikobewertung zu behandelnde Endpunkte der EN ISO 10993-1 zeigt die sogenannte "Endpunkttabelle". Aus Art und Dauer des Körperkontakts ergeben sich die verschiedenen Biokompatibilitätstests.

Die Norm legt dabei jedoch keine Teststrategie fest, da je nach Medizinprodukt auf einem risikobasierten Ansatz entschieden wird (EN ISO 10993-1:2020; Anhang A; A.1 Allgemeines): Die Endpunkttabelle soll keine fixe Checkliste sondern einen Rahmen für die Bewertung der Biokompatibilität und möglicher Prüfungen aufweisen. Angegebene relevante Endpunkte sind nicht zwangsläufig zu testen, jedoch sollten bestehende Datensätze bewertet werden, um mögliche fehlende Informationen zu identifizieren. Diese zusätzliche Identifizierung kann durch Erhebung zusätzlicher Datensätze oder durch Prüfungen erfolgen. Werden keine weiteren Datensätze erhoben, ist eine Begründung erforderlich.

EN ISO 10993-1:2020; Kapitel 5.2.2

Der Anwendungsbereich erfasst entweder den Patienten im Rahmen der bestimmungsgemäßen Verwendung mit dem Medizinprodukt oder den Anwender (z.B. bei OP-Handschuhen und Masken). Aber wie sieht es demnach mit Anwendern aus, die Kontakt zum Medizinprodukt oder Komponenten des Medizinprodukts haben, die nicht ausschließlich zum Schutz vorgesehen sind? Das regelt die Norm (EN ISO 10993-1:2020; Kapitel 5.2.2 Medizinprodukte mit Kontakt zu Körperoberflächen; a) Haut), sofern es ausschließlich um Hautkontakt geht, wie folgt:

  1. Ist zu belegen, dass das Material von Komponenten für andere Verbrauchsprodukte mit ähnlicher Kontaktart verwendet wird, braucht keine weitere biologische Beurteilung zu erfolgen
  2. Nicht durch Handschuhe geschützte Hände des Anwenders: Komponenten, die mit dem Anwender in Kontakt kommen können, z.B. menschliche Schnittstellen von elektronischen Geräten (Computertastaturen, Berührungsbildschirme) oder Gehäuse für elektronische Überwachungs- oder Programmiergeräte (z.B. Mobiltelefone, Tablets)
  3. Durch Handschuhe geschützte Hände des Anwenders: Komponenten, die mit dem Anwender in Kontakt kommen können (z. B. Kathetergriffe

Wie wird der Nachweis der biologischen Sicherheit praktisch umgesetzt?

Die Biokompatibilität ist auf das Risikomanagement abzustimmen. Dabei sind folgende Punkte zu beachten:

 

Schritt 1

Die bestimmungsgemäße Verwendung, Kontaktart und Kontaktdauer werden direkt bei der Planung der Biokompatibilität mit einbezogen und zählen zu den wichtigsten Anforderungen im Bereich der Biokompatibilität.

Schritt 2

Die Charakterisierung des Materials durch eine Literaturrecherche und vorliegende Laborberichte wird – je nach Datenlage und Medizinprodukt – ergänzt durch eine chemische und ggf. physikalische Charakterisierung, eine Identifizierung der Herstellungswerkstoffe (Rohmaterialen), eine Betrachtung zusätzlicher möglicher Stoffe wie Rückstände durch eine Sterilisation und/oder Verunreinigung durch Hilfs- und Betriebsstoffe und eine mögliche Freisetzung von chemischen Substanzen durch das Medizinprodukt selbst und/oder den Herstellungswerkstoffen.

Schritt 3

Die Überprüfung vorhandener Daten (prä-klinische Daten, klinische Daten und Materialcharakterisierung) erfolgt durch die biologische Beurteilung  anhand einer Gapanalyse von chemischen und ggf. physikalischen Merkmalen des Materials, vorangegangenen klinischen Anwendungen, Daten zur Häufigkeit und Umfang des Kontakts, toxikologische Daten bezüglich des Medizinprodukts/der Werkstoffe/der Abbauprodukte und einer toxikologischen Bewertung unter Angabe von z.B. Analytical Evaluation Threshold. Ziel der Gapanalyse ist es, für einen vollumfänglichen Biokompatibilitätsnachweis nötige Tests zu identifizieren.

Schritt 4

Nach Identifikation nötiger Tests wird eine Teststrategie festgelegt, die in einem Prüfplan mit festgehaltenen Akzeptanzkriterien dokumentiert wird. Die Prüfungen finden am verpackten und ggf. sterilisierten Endprodukt statt. Falls es sich um ein wiederverwendbares Medizinprodukt handelt,  sind auch Tests after lifetime (z.B. nach einer festgelegten Anzahl an Wiederaufbereitungszyklen) einzuplanen, um nicht biokompatible Materialveränderungen während des Produktlebenszyklus auszuschließen. Bei der Testplanung sind Art, Grad, Dauer, Häufigkeit und Bedingungen des Körperkontakts zu beachten und bei den Testlaboren anzugeben.

Es ist darauf zu achten, dass nur notwendige Tests durchgeführt werden.  Während in Europa weitestgehend auf Tierversuche verzichtet wird und sensitivere analytische Verfahren eingesetzt werden bzw. einzusetzen sind (Stichwort „Animal Welfare“), verlangt die FDA häufig Ergebnisse aus Tierversuchen. Produkte, die für die USA vorgesehen sind, sollten daher für die ggf. erforderlichen biologischen Tests wie Irritation und Hautsensibilisierung von US-amerikanischen Laboren geprüft werden. Diese Besonderheit ist in der Verifizierungsplanung zu berücksichtigen, da die in Europa erzeugten Nachweise für eine Zulassung in den USA nicht zu nutzen sind und höhere Kosten und längere Projektlaufzeiten hieraus resultieren.

Schritt 5

Die Auswertung der Daten und Testergebnisse erfolgt über einen Prüfbericht, der vom Testlabor ausgestellt wird. In diesem Bericht sollten folgende Punkte beinhaltet sein:

  • Name und Anschrift des Labors und Prüforts
  • Ggf. Vergabe von Unteraufträgen
  • Kennzeichnung des Prüfberichts auf jeder Seite unter Angabe einer Gesamtseitenzahl
  • Name und Anschrift des Auftraggebers
  • Beschreibung und eindeutige Bezeichnung des Prüfgegenstands
  • Eingangs- bzw. Verfallsdatum des Prüfgegenstands
  • Datum der Prüfung
  • Beschreibung der Prüfverfahren (Extraktion, Art und Konzentration der Extraktionslösungen)
  • Abweichungen, Zusätze und Einschränkungen gegenüber der Prüfspezifikation sowie alle festgestellten Fehler sind zu protokollieren
  • Messungen, Untersuchungen und Ergebnisse können durch Text, Tabellen, Grafiken, Skizzen und Fotos festgehalten bzw. veranschaulicht werden
  • Unterschrift und Titel der Personen, die den Prüfbericht erstellt haben
  • Ausstellungsdatum
  • Hinweis, dass sich die Prüfergebnisse nur auf die angewandte Prüfung mit dem entsprechenden Prüfling beziehen
  • Hinweis, dass das Labor eine auszugsweise Vervielfältigung schriftlich genehmigen muss
  • Alle Details, die notwendig sind für eine unabhängige Bewertung der Ergebnisse und eine (bei Bedarf) unabhängige Versuchswiederholung
  • Die Testergebnisse werden gegen die vorher festgelegten Akzeptanzkriterien und auf Aussagekraft der Methode bewertet. Die Testmethode wird auf z.B. Reproduzierbarkeit betrachtet.

Schritt 6

Die Gesamtbeurteilung durch eine Bewertung aller vorliegenden Daten und Prüfergebnisse erfolgt über

  • die Nutzen-Risikobewertung, die mit Hilfe der klinischen Daten aus dem Feld ermittelt wird,
  • der Kontrolle nach ausreichendem Umfang der Materialcharakterisierung, da dies die Begründung für die Auswahl der Prüfungen bzw. der Ausschluss von Prüfungen ist,
  • die Zusammenfassung und Bewertung der Daten durch einen qualifizierten Gutachter und
  • eine Bewertung und Dokumentation durch den Hersteller, die zusammenfassend in einem Report firmenintern freigegeben wird.

Schritt 7

Die Biokompatibilität ist ein iterativer Prozess, der nach dem Inverkehrbringen und auch nach Änderungen neu bewertet wird. Eine erneute Beurteilung steht nach Änderungen im Anwendungsbereich, Designänderungen, Änderungen technologischer Parameter, Materialänderungen bei Lieferanten, Änderung der Primärverpackung, Änderungen von Lager- und Transportbedingungen, Änderungen im Herstellungsprozess (z.B. andere Produktionshilfsmittel) und Änderungen des Sterilisationsverfahrens an. Außerdem ist eine erneute Beurteilung notwendig nach Hinweisen durch Daten aus dem Feld, dass bei bestimmungsgemäßer Verwendung unerwünschte Nebenwirkungen und/oder Vorkommnisse auftreten.

Annika Köneking
Compliance Engineer